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Re: fw: Am PC wieder sehen lernen



Hallo Wolf, hallo zusammen!

Da ich an der Universitaet Magdeburg und am Insitutu fuer Medizinische
Psychologie arbeite, wo das Computertraining zum "Sehenlernen"
entwickelt wurde, moechte ich es hier relativ ausfuerhlich beschreiben.
Wen es nicht interessiert, kann diese Mail ja loeschen.

Herzliche Guriesse aus Magdeburg                             Arne Harder

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                  Die Magdeburger Restitutionsmethode
         Computerprogramme zur Verbesserung des Sehvemoegens

Einfuehrung

Die Restitutionsmethode zielt darauf ab, verringertes Sehvermoegen mit
Hilfe von Training wieder zurueckzugewinnen.  Man unterscheidet sie von
der Kompensationsmethode, bei der vorhandenes Sehvermoegen so genutzt
wird, dass Leistungen wie eine ausreichende Mobilitaet zu Fuss moeglich
sind.  Beide Methoden wirken bei zwei Personengruppen: solchen mit Seh-
nervschaeden und solchen mit Schaeden im Sehzentrum des Gehirns
(Hemianopsie bzw. Quadrantenanopsie).  Keine diesr Personengruppen ist
blind; die Betroffenen gelten hoechstens als sehbehindert.

Dieser Bericht beschreibt die an der Universitaeit Magdeburg massgeblich
entwickelte und mehrfach getestete Kompensationsmethode.  Er zeigt,
welche Schwierigkeiten Personen haben, fuer welche diese Methode in
Frage kommt, stellt das Prinzip der Methode dar, zeigt auf, welche
Besserungen ihre Anwendung erhoffen laesst und nennt Alternativen fuer
jene, bei der die Restitutionsmethode nicht wirkt.

Auswirkungen von Sehnervschaeden und Hemianopsie

Personen mit Sehnervschaeden oder Schaedigungen im Sehzentrum des Gehirns
weisen Einschraenkungen des Gesichtsfeldes auf.  Das Gesichtsfeld ist
jener bereich, den man bei gerade gehaltenem Kopf und mit unbewegten
Augen ueberblickt.  Jedes Auge hat seinen eigenen Zentralbereich, auf
dem man am besten sieht, und links bzw. rechts davon jeweils einen
Aussenbereich.  Wer einen Ausfall der rechten Gesichtsfeldhaelfte, also
eine rechtsseitige Himianopsie hat, sieht auf dem rechten Auge alles
normal, was in seinem Zentralbereich oder in seinem linken Aussenbereich
liegt.  Was sich dagegen im rechtsaeugigen rechten Aussenbereich befindet,
sieht er gar nicht oder schlechter als andere.  Dinge im linksaeugigen
Zentralbereich oder links davon sieht er normal, solche im linksaeugigen
rechten Aussenbereich schlechter als andere oder ueberhaupt nicht mehr.

Viele Menschen mit leichter Hemianopsie bemerken den Schaden gar nicht.
Unbewusst steuern sie ihre Augenbewegungen und drehen ihren Kopf so,
dass sie die sonst kaum erahnten Objekte korrekt erkennen.  In schweren
Faellen aber treten Probleme auf: weil die Betroffenen den Kopf staendig
schiefhalten, bekommen sie auf Dauer Wirbelsaeulenschaeden.  Oft reicht
das Kopfverdrehen nicht aus.  Die Betroffenen uebersehen Hindernisse und
laufen dagegen; sie bemerken Fahrzeuge erst knapp vor einem Unfall und
haben Angst, allein zu Fuss zu gehen.  Solche Menschen bednoetigen Hilfe.

Vorgehen bei der Restitutionsmethode

Bei den meisten Patienten mit den genannten Stoerungen laesst sich das
Gesichtsfeld in einen voll funktionsfaehigen, einen teilgestoerten
Uebergangsbereich und einen voellig ausgefallenen Bereich einteilen.
Die Sehtrainingsprogramme sollen die Leistungen im Uebergangsbereich
verbessern.  Sehen "Lernt" man also nicht - was weg ist, bleibt weg.

Man muss zuvor nicht nur wissen, welche Patienten geeignet sind, sondern
auch, wo ihre Uebergangsbereiche liegen.  Deshalb ist dem Training eine
ausfuehrliche Testphase vorgeschaltet, die von Fachaerzten uebernommen
wird.  Die Daten der Testphase dienen als Grundlage zur Anpassung der
Trainingsprogramme an die individuellen Beduerfnisse. der Patienten.

Die Programme bieten den Patienten vorwiegend im Uebergangsbereich
Trainingsreize.  Das koennen helle Punkte auf schwarzem Hintergrund oder
farbige Buchstaben sein.  Stets ist der Reiz zu erkennen.  Das Verhalten
beim Loesen der Aufgaben wird automatisch gespeichert.  Je mehr
Aufgaben geloest werden, desto schwerer werden die folgenden gemacht.

Der Patient muss sich einer Reihe von Untersuchungen und Tests unter-
ziehen.  Ausserdem benoetigt er die Trainingsprogramme und einen PC.
Damit ein Effekt sichtbar wird, sollte er wenigstens drei Monate lang
taeglich eine Stunde trainieren.

Zu erwartende Verbesserungen

Definitiv weiss man folgendes:
1. Nach einjaehrigem Training vergroessert sich der funktionsfaehige
   Bereich des Gesichtsfeldes um ca. sieben Grad; Menschen mit voss-
   staendiger Hemianopsie haben einen Ausfall von 45 Grad.
2. Bei ungefaehr 1/3 der trainierten Personen kommt es zu leichten Ver-
   ringerungen des Sehvermoegens, bei einem weiteren geschieht nichts.
   Die uebrigen Patienten zeigen Verbesserungen um ca. zehn Grtad.
3. Ohne Training (Wartegruppe) gibt es keine Verbesserungen, dafuer aber
   aehnliche Verschlechterungen bei enem Drittel der Personen.
4. Wer zu den "Gewinnern" zaehlt, ist nicht vorherzusagen.
5. Der Trainingseffekt wurde in mehreren unabhaengigen Studien gefunden.
6. Patienten bemerken an sich selbst keinen Effekt im Alltag.  Sie
   halten das Training jedoch fuer wertvoll, weil es ihnen die Grenzen
   ihres Sehvermoegens zeigt, derer sie sich vorher kaum bewusst waren.

Ratten mit Sehnervquetschungen zeigen einen Anstieg der Verbindungen
zwischen den verbliebenen Nervenzellen.  Da Ratten- und Menschennerven
sehr aehnlich aufgebaut sind, liegt der Schluss nahe, dass sich bei
Menschen die "Hardware" den neuen Trainingsbedingungen anpasst.
Moeglicherweise erzielt man mit der Restitutionsmethode verbessertes
Sehvermoegen, weil die Zahl der funktionsfaehigen Nervenverbindungen
waechst.  Die Wirkung waere also aehnlich dem Muskeltraining, wo die
Muskelmasse mit der Uebung zunimmt.

Sicher ist zweirlei: man lernt mit dem Training, die Aufmerksamkeit auf
die wenige vorhanene Information zu lenken und sie so besser zu nutzen.
Ausserdem lernt man die eigenen Grenzen kennen und erfaehrt, was sich
innerhalb dieser Grenzen noch machen laesst.

Die Kompensationsmethode als Alternative

Wirkt die Restitutionsmethode nicht, bleibt immer noch die bewaehrte
Kompensationsmethode nach Kerkhoff.  Sie leitet zum systematischen Ein-
satz der Augenbewegungen an.  Die Patienten lernen, vermehrt die Augen
so zu bewegen, dass Dinge, die sonst im Uebergangsbereich liegen,
erkannt werden koennen.


Weitere Informationen sind zu beziehen bei:

Institut fuer Medizinische Psychologie
Medizinische Fakultaet
Leipziger Strasse 44
D-39120 Magdeburg
Tel. (03 91) 6 33 71 05

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Institutional (dienstliche): Dr. Arne Harder, Institut fuer Medizinische
   Psychologie, Medizinische Fakultaet, Leipziger Strasse 44,
   D-39120 Magdeburg. Tel. 0049-391-6117122.
   E-Mail: harder_bEi_medizin.uni-magdeburg.de