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Urteile



Blinde haben Anspruch auf ein Lese-Sprech-Geraet mit Braillezeile

Gesetzliche Krankenkassen muessen Blinde unter bestimmten Voraus-
setzungen zusaetzlich zum Lese-Sprechgeraet mit einer Braillezeile
aus- statten. Das hat der dritte Senat des Bundessozialgerichts
in seinem Urteil vom 16.04.1998 - B 3 KR 6/97 R - br. 1999 S. 14
(in diesem Heft) entschieden. Das BSG setzt damit seine
Rechtsprechung zu den Lesegeraeten fuer Blinde (vgl. insbesondere
die Urteile zum Lese-Sprech- geraet vom 23.08.1995 - 3 RK 6/95, 3
RK 7/95 - SozR 3-2500 § 33 Nr. 16 - und 3 RK 8/95) fort und traegt
der technischen Entwicklung Rechnung.

Folgender Sachverhalt lag der Entscheidung zu Grunde:

Der Klaeger beantragte bei seiner Krankenkasse die Kostenuebernahme
fuer ein Lese-Sprechgeraet, das zusaetzlich mit einer Braillezeile
ausgestat- tet sein sollte, zum privaten Gebrauch. Diese lehnte
den Antrag ab. Im Klageverfahren hat sich die beklagte
Krankenkasse bereit erklaert, die Kosten einer
behindertengerechten Aufruestung des privaten Personal- computers
(PC) des Klaegers zum Lese-Sprechgeraet (mit Scanner, Sprachausgabe
und entsprechender Spezialsoftware gemaess einem Kostenvoranschlag
ueber 9.200 DM zu uebernehmen. Der Klaeger hat dieses
Teilanerkenntnis der Beklagten angenommen und mit der Klage nur
noch die Kostenuebernahme fuer die Braillezeile weiterverfolgt. Die
Braillezeile ist ein Display, ueber welches im PC gespeicherte
Daten in Blindenschrift (Brailleschrift) ausgegeben und damit
mittels des Tastsin- nes gelesen werden koennen.


Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Es hat gemeint,
mit dem Lese-Sprechgeraet sei der Klaeger ausreichend versorgt.

Demgegenueber machte der Klaeger im Wege der Sprungrevision
geltend, dass das Lesen von Texten, die nicht zeilenweise gedruckt
seien, ohne Braillezeile grosse Schwierigkeiten bereite. Unmoeglich
sei das Erfassen von Schriftstuecken, die Tabellen, Zahlenreihen
usw. enthielten wie z. B. Kontoauszuege, Formulare oder
Telefonrechnungen. Er ruegte deshalb die Verletzung von § 33 SGB
V.

Der Klaeger hatte die Ausstattung mit einer 84stelligen,
hilfsweise mit einer 44stelligen Braillezeile beantragt. Mit
ersterer ist eine ganze, mit letzterer lediglich eine halbe
Bildschirmzeile lesbar.

Die Revision hatte Erfolg. Das BSG hob das Urteil des SG Duisburg
vom 21.04.1997 sowie den ablehnenden Bescheid der Beklagten auf
und verurteilte diese, den Klaeger mit einer 44stelligen
Braillezeile zu- saetzlich zu der bereits geleisteten
Lese-Sprech-Einrichtung zu versor- gen.

Der Anspruch des Klaegers ergibt sich aus § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB
V. Die Braillezeile ist erforderlich, um Behinderungsfolgen
auszugleichen. Sie ist "als auf den Gebrauch durch Blinde
zugeschnittenes Geraet weder ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand
noch nach § 34 SGB V ausgeschlossen".

Der dritte Senat des BSG begruendet seine Entscheidung damit, dass
das Grundbeduerfnis des Klaegers, um dessen Befriedigung es geht,
sein "Beduerfnis auf (umfassende) Information" ist. Er verweist in
diesem Zusammenhang auf seine Urteile zum Lese-Sprechgeraet (SozR
3 - 2500 § 33 Nr 16), zum Farberkennungsgeraet (SozR 3 - 2500 § 33
Nr. 18) und zur doppelten Ausstattung eines behinderten Schuelers
mit einem behindertengerechten PC SozR 3 - 2500 § 33 Nr. 22).

In Fortfuehrung der oben ausgefuehrten Rechtsprechung misst das BSG
dem Informationsbeduerfnis zu Recht zunehmende Bedeutung bei.
Dabei besteht "ein enger Zusammenhang mit dem Recht auf ein
selbstbe- stimmtes Leben einschl. der Schaffung eines eigenen
geistigen Frei- raums und der Teilnahme am gesellschaftlichen
Leben. Die Information ist fuer Persoenlichkeitsentfaltung und
Allgemeinbildung von elementarer Bedeutung".

Wenn man beruecksichtigt, dass die Blindheit in einer optisch
gepraegten Welt gerade im Informationsbereich besondere
Beeintraechtigungen mit sich bringt, so dass sie nicht zu Unrecht
als "Informationsbehinderung" charakterisiert wird (Kraehenbuehl,
P.: Der Blinde in gemischten sozialen Situationen, Rheinstaetten
1977 S 54), ist es sehr zu begruessen, dass das BSG die technische
Entwicklung in dieser Entscheidung besonders hervorhebt. Der
dritte Senat fuehrt in diesem Zusammenhang aus:
"Informationsbedarf und -moeglichkeiten nehmen in der modernen
Gesellschaft staendig und in steigendem Masse zu, wobei immer
wieder neue qualitative Stufen erreicht werden (Beispiel:
Internet). Diesem Informationsbeduerfnis ist in einem umfassenden
Sinne Rechnung zu tragen..."

Zu begruessen ist, dass nach den ausdruecklichen Feststellungen des
BSG nicht nur qualitativ hochstehende Lektuere wie Fachliteratur,
sondern auch die Informationen im persoenlichen Lebensbereich auf
einfachster Stufe zu einem "selbstbestimmten Leben" gehoeren. Der
Blinde braucht die Art seines Lesebedarfs nicht zu rechtfertigen,
denn "es geht auch um schlichte Zeitungslektuere und die
Kenntnisnahme von Telefonnum- mern, Telefonrechnungen,
Arzneibeipackzetteln, Formularen usw.". Eine Leistungspflicht der
Krankenkasse besteht nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V allerdings
nur, wenn das Hilfsmittel erforderlich ist. Bei der Pruefung der
Frage, ob die zusaetzliche Ausstattung mit einer Braille- zeile
notwendig (erforderlich) ist, kommt es darauf an, ob die ge-
wuenschten Informationen mit einem Lese-Sprechgeraet allein erlangt
werden koennen oder ob das ohne unzumutbaren Aufwand praktisch nur
mit Hilfe einer Braillezeile moeglich ist. Fuer diese Beurteilung
spielt das konkrete Informationsbeduerfnis eine Rolle. In vielen
Faellen wird nach wie vor das Lese-Sprechgeraet ausreichend und
sinnvoll sein.

Unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes hat das BSG dem
Klaeger nur eine 44stellige und keine 84stellige Braillezeile
zuerkannt. Die vom Klaeger gewuenschten Einsatzgebiete,
insbesondere die taegliche Zeitungslektuere, erfordern, wie das BSG
feststellt, keine "Vollzeile". "§ 33 SGB V vermittelt keinen
Anspruch auf Versorgung mit einem optimalen Hilfsmitteltyp.
Stehen fuer einen Behinderungsausgleich mehrere Geraetetypen zur
Verfuegung, so beschraenkt sich die Leistungs- pflicht der
Krankenkasse grundsaetzlich auf den preiswerteren." Al- lerdings
muss das Hilfsmittel "funktionell geeignet sein", d. h. den
erforderlichen Behinderungsausgleich bewirken.
Die Spitzenverbaende der Krankenkassen sollten deshalb dafuer
sorgen, dass im Hilfsmittelverzeichnis (§ 128 SGB V) die
erforderlichen Quali- taetsanforderungen festgelegt werden (§ 139
Abs. 1 SGB V).

In diesem Zusammenhang unterstreicht das BSG die in der
bisherigen Rechtsprechung zur Hilfsmittelversorgung aufgestellten
Grenzen: "der Anspruch findet insbesondere seine Grenze dort, wo
eine nur geringfue- gige Verbesserung eines auf breitem Feld
anwendbaren Hilfsmittels voellig ausser Verhaeltnis zur Belastung
der Versichertengemeinschaft geraten wuerde". Insoweit hat die
Rechtsprechung auf eine begruendbare Relation zwischen Kosten und
Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels (BSG SozR 3 - 2500 § 33 Nr. 4 -
Bildschirmlesegeraet m. w. N.; BSG SozR 3 - 2500  § 33 Nr. 16 -
Lese-Sprechgeraet); BSG SozR 3 - 2500 § 33 Nr. 18 -
Farberkennungsgeraet; BSG SozR 3 - 2500 § 33 Nr. 20 - Luft-
reinigungsgeraet), insbesondere den zeitlichen Umfang der
beabsichtig- ten Nutzung und die Bedeutung der jeweils
erschliessbaren - hier: zu- saetzlich erschliessbaren -
Informationen (BSG SozR 3 - 2500 § 33 Nr. 16 - Lese-Sprechgeraet),
abgestellt.

Das Lesesystem muss demnach durchschnittlich 5 Stunden pro Woche
benoetigt werden (vgl. die zitierten Urteile zum
Lese-Sprechgeraet). Wenn auf die "Bedeutung der jeweils
erschliessbaren - hier: zusaetzlich er- schliessbaren -
Informationen" abgestellt wird, kann damit keine qualita- tive
Bewertung gemeint sein. Sonst stuende diese Feststellung im
Widerspruch zur uebrigen Begruendung des BSG.

Die Entscheidung des dritten Senats ist auch deshalb zu begruessen,
weil der technische Fortschritt beruecksichtigt und offensichtlich
dem Lesen fuer die Informationsgewinnung das entsprechende Gewicht
beigemes- sen wird. In der Tat gewinnen PC, die durch Scanner,
Erkennungs- software und Sprachausgabe zum Lese-Sprechgeraet in
der Form des "offenen (ausbaufaehigen) Systems" aufgeruestet und
mit einer Braillezei- le versehen sind, fuer blinde Menschen
zunehmende Bedeutung. Ohne ein solches Hilfsmittel besteht fuer
sie kein Zugang zu den z. B. im Internet bereitgestellten
Informationen und den zunehmend angebote- nen elektronischen
Tageszeitungen, Zeitschriften und Nachschlagewer- ken aller Art.
Die in dieser Form angebotenen Informationen sind ohne die
Kombination von Sprachausgabe und Braillezeile kaum bzw. nur mit
grosser Muehe und erheblichem Zeitaufwand zu bewaeltigen. Auf ein
reines "Lese-Sprechgeraet" sollten deshalb - entsprechenden
Informa- tionsbedarf im Einzelfall vorausgesetzt - nur Blinde
verwiesen werden, die die Brailleschrift nicht lesen koennen. Fuer
diesen Personenkreis bleibt das Lese-Sprechgeraet ein
unentbehrliches und auch leistungsfaehiges Hilfsmittel.

Unter Beruecksichtigung der Schranken, die das BSG aufgestellt
hat, und des kleinen Anteils der Blinden, fuer die ein solch
komplexes Lese- system, wie es der Entscheidung des BSG vom
16.04.1998 a. a. O. zugrunde liegt, in Frage kommt, wird sich fuer
die Krankenkassen keine uebermaessige Kostenbelastung ergeben. In
der Bundesrepublik Deutsch- land leben nach Schaetzung des
Deutschen Blinden- und Sehbehinder- tenverbandes (DBSV) rund
150.000 blinde Menschen. Von diesen haben 70 % das 60. Lebensjahr
ueberschritten. Der groesste Teil davon, naemlich 90 %, hat das
Augenlicht erst nach Vollendung des 60. Le- bensjahres - haeufig
in sehr hohem Alter - verloren (vgl. Dokumentation des DBV -
jetzt DBSV - ueber das zweite Seminar zur Elementarrehabili-
tation, Bonn 1994 und Statistik des Bayerischen Landesamtes fuer
Versorgung und Familienfoerderung ueber die Blinden in Bayern zum
Stichtag 30.06.1998, die diese Schaetzung bestaetigt). Die
Blindenschrift kann in diesem Alter nicht mehr oder zumindest
nicht mehr in der zur Anwendung eines solchen Lesesystems
erforderlichen Fertigkeit erlernt werden. Insgesamt beherrschen
nur etwa 15 % aller Blinden die Blin- denschrift, also ca. 22.000
- 23.000. Zusaetzlich zur Beherrschung der Blindenschrift muessen
die zur Bedienung des Lesesystems erforderli- chen EDV-Kenntnisse
vorhanden sein. Fuer die wenigen Blinden, die die Voraussetzungen
fuer die Ausstattung mit einem Lese-Sprechgeraet mit Braillezeile
erfuellen, bringt ein solches Lesesystem wegen der damit
verbundenen erweiterten Informationsmoeglichkeiten und der
Unabhaen- gigkeit von fremder Hilfe eine voellig neue
Lebensqualitaet mit sich. Da der Blinde die auf den
Personalcomputer entfallenden Kosten selbst tragen muss, weil es
sich bei diesem um einen "allgemeinen Ge- brauchsgegenstand des
taeglichen Lebens" im Sinn von § 33 SGB V handelt (BSG SozR 3 -
2500 § 33 Nr. 16 - Lese-Sprechgeraet), ist eine angemessene
Eigenbeteiligung gegeben. Das duerfte dazu beitragen,
ungerechtfertigte Antraege zu vermeiden.

Rechtsanwalt Herbert Demmel, Muenchen