[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

Re: electronic books



Hallo, Wolf, hallo allerseits,

Sollen wir uns den SCHULDIG fuehlen, wenn 35000 Setzer und 15000
Korrektoren und 6000 Lektoren und 2000 weitere Verlagsangestellte - also
insgesamt 48000 Menschen im Verlagsbereich - gefeuert werden, weil die
Verlage "die Zeichen der Zeit erkannt" haben und die Wirtschaftlichhkeit
ihrer Unternehmen durch Senkung der Personalkosten steigern?  Wer wird
von den Rationalisierungsmassnahmen, die zunaechst die freie Wirtschaft,
dann aber auch die Verwaltungen erfassen, betroffen sein: doch sicher
auch behinderte Menschen - und unter diesen Sehgeschaedigte.
Der technische Fortschrit hat bereits viele Sehgeschaedigte auf die
Strasse verbannt; die "klassischen" Bureau-Berufe des Stenotypisten und
des Phonotypisten sterben langsam aus.

Die Rationalisierung ist eine allgemeine Entwicklung, die wir
Sehgeschaedigten nicht deshalb zu verantworten haben, weil wir wegen
unserer speziellen Voraussetzungen den technischen Fortschritt gepuscht
haben.  Wer nimmt uns paar Mennickes und Weibsen denn schon ernst? -
Keiner - ausser uns selbst.

Und was heisst das fuer das Problem: "Literaturbeschaffung fuer Blinde
bei Rationalisierungstendenzen in der Gesellschaft?
Getreu meiner ueblichen Taktik zerhacke ich diese Frage in Unterfragen,
zu denen ich mein statement abgeben moechte:

1. Frage: Sollen Sehgeschaedigte das Lesen elektronischer Literatur
      bolkottieren, weil die Aufbereitungsprogramme Menschen arbeitslos
      machen?
   Antwort: niemand wird wohl hier so denken.  Liegen die Entwicklungen
      bereits vor, waere es Unsinn, die geringen Vorteile zu nutzen,
      die sie uns bringen koennten.  Da aber die Entwicklungen noch im
      Gange sind, ergibt sich notwendig die zweite Frage:
2. Frage: Sollen Sehgeschaedigte technische Entwicklungen foerdern, die
      das E-Buch fuer alle ermoeglichen?
   Antwort: Ja!  Natuerlich machen solche Entwicklungen Menschen
      arbeitslos - viel, viel mehr Menschen, als jemals in neuen
      Berufen unterkommen - selbst, wenn alle Betroffenen umlernen.
      Doch die Tendenz, menschliche Arbeit durch kostengunstigere
      Maschinenarbeit zu ersetzen, liegt dem Kapitalismus insgesamt
      zugrunde.  Wir muessten schon dieses System als Ganzes stuerzen,
      falls wir diese Tendenz abschaffen wollen.  Aber:
3. Frage: Ist der Vorteil fuer derzeit hoechstens 200 Sehgeschaedigte
      PC-Nutzer, Buecher lesen zu koennen, wirklich wert, dass deshalb
      mindestens 48000 Leute (siehe oben) auf die Strasse muessen?
   Antwort: Sicher nicht, wenn das wirklich die Frage waere.  Haetten
      wir allein zu entscheiden, was geschieht, so sollten wir "brav
      sein" und lieber die Unbill ertragen, dass wir eben Zeit und Muehe
      aufwenden muessen, um an Literatur zu gelangen.  Nun ist aber
      die Sache so, dass die Wirtschaft den neuen E-Literatur-Markt
      zu besetzen trachtet.  Frage 2. ist also im Augenblick gestellt,
      und meine Antwort darauf kennt Ihr.
4. Soll uns Sehgeschaedigten also das Schicksal der Rationalisierten
      egal sein, und was koennten wir fuer sie tun?
   iAntwort: Ja, sofern wir Sehgeschaedigte sind, kann uns das Schicksal
      der Rationalisierten gleichgueltig lassen.  Ich sage nochmal:
      sofern wir sehgeschaedigt sind!  Als politisch bewusst denkenndem
      Menschen sind sie mir natuerlich nicht gleichgueltig.  Ich will,
      wenn ich schon den Kapitalismus nicht stuerzen kann, doch wenigstens
      eine Variante dieses Systems, in dem alle Menschen einigermassen
      auskoemmlich leben koennen.  Auch werden wir Behinderten ebenso
      von der Rationalisierungswelle erfasst werden wie andere, ja, meiner
      Ansicht nach wird man all diejenigen zuerst entlassen, die aufgrund
      wovon auch immer als unliebsam gelten - und dazu gehoeren eben
      auch wir Sehgeschaedigten.  Aber ich kann nicht erwarten, dass
      jemand nur deshalb den Kampf gegen Ausbeutung und fuer eine
      menschliche Gesellschaft aufnimmt, nur weil er sehgeschaedigt ist.
      Die Schaedigung haben wir uns nicht ausgesucht.
      Wer egoistisch sein will, der tue es.

Dieser Brief ist zu einer boesen Polemik und zu einer nicht sonderlich
differenzzierten Gesellschaftskritik geraten.  Wolltest Du diese Art
Diskussion eigentlich, Wolff?  Woran hast Du eigentlich gedacht, als Du
uns auf die drohende Rationalisierung durch E-Buecher hinwiesest?
Was die Liste anbetrifft: Waere nicht "E-Literatur" ebenso ein
gutes Thema fuer die geplante "Internet-Konferenz", die Matthias doch
initiieren will?  Allerdings befuerchte ich stark, dass die politische
Dimension, die Wolff uns aufgezeigt hat, kaum Thema dieser Konferrenz
sein kann - ich wuesste nicht, wie, schon gar nicht, wie dann die
Ergebnisse umzusetzen waeren.  Aber wer weiss, vielleicht haben ja andere von
Euch eine gute Idee dazu.

Noch einen froehlichen Ausgang des Osterfestes wuenscht      Arne Harder
------------------------------------------------------------------------
Dr. Arne Harder, Otto-von-Guericke-Strasse 57, D-39104 Magdeburg.
Tel. 0049-391-5411241.  E-Mail: harder_bEi_medizin.uni-magdeburg.de
WWW: http://www.med.uni-magdeburg.de/~harder