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Re: Psychologie des Lesens



Hallo Arne, Andreas, Ilsabe et al.

Bloss noch ganz schnell, bevor ich fuer zwei Wochen zu meiner Tochter nach
Chicago fliege.

> 1. Stachelschrift:  Ich habe viele Jahre gebraucht, bis ich mit der
> Tafelstecherei mit sechs Punkten zurechtkam.  Das Schreiben mit einer
> 3x4tafel war gewiss eine Folterqual.

Arne, aller Wahrscheinlichkeit nach hatte der Sattlersbub Louis mit seinen
16 Jahren gar nicht die Moeglichkeit, eine Schreibtafel fuer seine
Punktschrift herzustellen, sondern hat wohl die Punkte freihaendig ins
Papier gestichelt. Klar, auch da macht es einen Unterschied, ob ich etwa
fuer den Buchstaben A nur einen oder - wie es Monsieu Barbier (vielen
Dank, Ilsabe!) vermutlich gemacht hat - acht Punkte praegen muss. Braille
hatte aber nicht die Probleme des Tafelschreibers, naemlich erstens in
Spiegelschrift und zweitens ohne direkte Kontrollmoeglichkeit stechen zu
muessen. Die Motivation fuer Braille wird doch eher das gewesen sein, was
Du so formulierst: 

> Schwarzschriftzeichen sind nach optomorphen Kriterien entstanden,
> Brailles Zeichen nach haptomorphen. 

Genau! Der junge Kerl hat damals intuitiv erfasst, auf was es ankommt. Und
eben deshalb bin ich skeptisch, wenn ich lese, dass Blinde mit
4x4-Matrizen "gut zurechtkommen".

> (auch hier gaebe es einiges zu aendern: wieso muss das e das Spiegelbild
> des i sein? 

Das ist purer Zufall. Aber wenn die Frage schon im Raum steht: Vielleicht
kennen nicht alle von Euch das Konstruktionsprinzip, das dem begnadeten
Spieler Braille eingefallen ist. Hier der Versuch einer Darstellung:

Regel 1: Nur solche Punktkombinationen werden als Buchstaben zugelassen,
die sowohl links als auch oben angeschlagen sind, also einen der Punkte
1,2,3 und ebenso einen der Punkte 1,4 enthalten (das haengt sicher mit der
freihaendigen Schreibtechnik zusammen, die Braille zunaechst anwenden
musste).

Regel 2:
2.1 Teile die 6-Punkteform in drei Zweiergruppen ein nach dem Schema
   1 2
   1 2
   3 3

2.2 Bilde dann aus jeder dieser Gruppen die drei moeglichen Kombinationen
in dieser Reihenfolge:
   1. nur erster Punkt,
   2. beide Punkte,
   3. nur zweiter Punkt.
("Kein Punkt" galt offenbar nicht als Kombination, sonst waere eine andere
Reihenfolge der Zeichen zustande gekommen.)

2.3 Bilde aus Gruppe 1 allein die Zeichen, die sich mit Regel 1 vertragen
(es sind gerade zwei Stueck) und verwende sie fuer die ersten Buchstaben
des Alphabets: a und b.

2.4 Kombiniere jede der Moeglichkeiten aus Gruppe 1 mit jeder aus Gruppe
2. Das sind neun Kombinationen, wobei aber die letzte (Punkte 2 und 5)
wegen Regel 1 nicht brauchbar ist. So kommen wir im Alphabet von c bis j.

2.5 Bilde drei weitere Zehnerreihen durch Kombination der bereits
vorhandenen Zeichen mit den Moeglichkeiten der Gruppe 3. So entstehen die
Dekaden k bis t, u bis } und 1 bis w. 

Nur 25 dieser 40 Zeichen werden fuer das Alphabet gebraucht (Achtung!
Braille war Franzose und hielt das W fuer ueberfluessig). Die noch
verfuegbaren 15 Zeichen liessen sich fuer die im Franzoesischen
gebraeuchlichen Diakritika und Ligaturen vergeben. Das W der "Auslaender"
rueckte an die allerletzte Stelle - Pech fuer uns Nichtfranzosen. 

Es gibt nur noch vier Zeichen, die nach Regel 1 zulaessig sind, aber sich
nach Regel 2 nicht ableiten lassen: |, `, 0 und #. Sie bekamen
williuerliche Bedeutungen, das Letzte z.B. wurde das "Zahlenzeichen", denn
fuer zehn Ziffern reichte der Vorrat nicht mehr aus (wohlgemerkt, selbst
dieser Mangel, wie auch die fehlende Unterscheidung zwischen Gross- und
Kleinbuchstaben, veranlassten Braille nicht, auch nur einen weiteren
Punkt hinzuzunehmen).

Eine fuenfte Dekade kann gebildet werden, indem die Zeichen a bis j
(Dekade 1) ein Stockwerk nach unten gerueckt werden. Diese Kombinationen
verletzen jedoch Regel 1. Als Interpunktionszeichen taugten sie aber
trotzdem, denn diese schliessen sich immer an einen Buchstaben an und
fuehren deshalb nicht zu Orientierungsproblemen.

Endlich bleiben zehn weitere Kombinationen uebrig (darunter das
Leerzeichen), die sich nicht mehr streng systematisch einordnen lassen.
Auch sie haben willkuerliche (oder gar keine) Bedeutungen zugewiesen
bekommen.

Na, war vielleicht ein bisschen lang, aber ich bin halt einfach immer
wieder begeistert von Brailles Ordnungsprinzip, und moeglicherweise geht
es Euch aehnlich.

> Wollte man eine neue Punktschrift auf 16punktbasis entwerfen, so muesste
> man darauf achten, dass sich die wichtigsten Zeichen mittels Tastsinn
> bestens voneinander unterscheiden lassen. 

Richtig. Auch wenn man von Brailles Ordnungsprinzip fasziniert sein kann,
ist damit noch nicht bewiesen, dass es die optimale Richtschnur fuer die
Definition einer neuen Schrift darstellt. Bei groesseren Punktmatrizen
wird man sich bestimmt von anderen Kriterien leiten lassen. Allerdings
finde ich hier den Hinweis von Andreas auf das Optacon sehr beachtenswert.

> Aber: gibt es denn ueberhaupt Reformbedarf fuer die Brailleschrift?

Blutenden Herzens haben wir uns seinerzeit dazu durchgerungen,
Braillezeilen bzw. -drucker mit 8-Punktemodulen auszustatten, um fuer die
8-Bitzeichen des Computers eine 1:1-Darstellung zu haben. Zumindest in
jener Pionierzeit hatte das gute Gruende, denn gedacht war zunaechst nur
an Programmierer, und die mussten sich mit formatgebundenen
Programmiersprachen (Fortran, Cobol, Assembler) herumschlagen. Inzwischen
sind wir 25 Jahre aelter und haben auf dem Computersektor eine gigantische
Entwicklung hinter uns. Da koennte man sich schon vorstellen, unsere Ideen
von damals zu ueberdenken. So etwas bahnt sich auch schon an, indem
ueberlegt wird, wie wir mit dem im Aufbau befindlichen, aber bereits
vielfach benutzten Unicode umgehen sollen. Dieser Zeichensatz basiert auf
16 Bits, waere also theoretisch eineindeutig auf eine 4x4-Punktmatrix
abbildbar. Ob man damit aber auch in der Praxis arbeiten kann (und bitte
nicht schlechter als mit dem, was wir jetzt haben!), sei erst einmal
dahingestellt. Kurios uebrigens: Im Unicode ist auch ein Bereich fuer die
8-Punkte-Braillezeichen vorgesehen. Was machen die, wenn wir auch 16
Punkte einfuehren <grins>?

Euch allen ein schoenes Pfingstfest und viele Gruesse,
Eberhard