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Blindengerechtigkeit versus Rollstuhlgerechtigkeit



Jens-Uwe Voigt schrieb:
> In article <B74CB70D1C33D311B0FD00805F9F914D0F705B_bEi_london.privatenet>, you
> Ich habe so etwas selbst mal in Hamburg
> erlebt. Dort gab es vor einiger Zeit Wirbel, weil die Stadt zwar nicht 
> das Blindengeld kuerzen, aber dafuer das Blindengeld auf im Einzelfall erhal-
> tenes Pflegegeld bei gleichzeitiger Pflegevbeduerftigkeit anrechnen wollte.
> Vielen von uns wurde geraten, gegen diese Aenderung keinen Widerspruch 
> einzulegen. Ein Widerspruch wurde nur in Ausnahmefaellen empfohlen.
> Ich hatte damals selbst mit
> dem Gedanken gespielt, Widerspruch einzulegen, habe nach einigen Telefonaten
> aber bewusst verzichtet.

Vielleicht darf ich als Sehender etwas zur gesamten Tehmatik beitragen:

Die anteilige Anrechnung des Pflegegeldes auf Landesblindengeld ist in 
Niedersachsen Gesetz, ich kann mir nicht vorstellen, dass das in Hamburg anders 
ist. Insofern kommt man hier mit einem Widerspruch nicht sehr weit. Voellig 
unverstaendlich war mir hierzu allerdings, dass es seitens der Blindenverbaende 
nicht einen Sturm der oeffentlichen Entruestung gegeben hat.

Dies ist aber meine grundsaetzliche Erfahrung mit Verbaenden im Allgemeinen und 
Blindenverbaenden im Speziellen (es mag durchaus einzelne sehr aktive geben). Die 
regionalen Blindenverbaende im Umfeld von Stade haben Kinder, Jugendliche und 
junge Erwachsenen gar nicht "im Programm". Somit haben wir vor zwei Monaten  
eine Elterngruppe ins Leben gerufen und werden selbst taetig. Es ist dann schon 
erstaunlich, wie schnell man gute Resonanz bekommt. So habe ich Kontakt mit dem 
oertlichen Museum aufgenommen, um dies blindengerecht zu gestalten, der oertliche 
Theaterveranstalter hat zugesagt, ein Konzept fuer Sehbehinderte und Blinde zu 
machen, mit der Lufthansa stehe ich in Verbindung wegen Sicherheitsschulungen in 
Hamburg. Und dies ist erst der Anfang. Behoerden kommen auch noch dran.

Unabhaengig davon finde ich es wichtig, unter einem starken Dach zu stehen, um 
Forderungen durchzusetzen. Insofern kann ich jeden nur bitten, sich kritisch und 
laut in den Verbaenden zu engagieren, auch wenn Betonkoepfe einen immer wieder mit 
Ignoranz schlagen. Veraenderungen wird es nur geben, wenn der Druck entsprechend 
stark wird. 

Ich wuerde auch gar nicht so sehr auf die Schiene festbeissen, einer Minderheit 
anzugehoeren; dies hat dann eher Charakter von Bettelei.  In einem Sozialstaat 
fordere ich ein entsprechendes gesellschaftliches Bewusstsein. Im uebrigen ist 
jeder jeden Tag von einer Behinderung, wie auch immer, bedroht. 
Sozialgerechtigkeit heisst nicht, dass jeder Aepfel pfluecken darf, sondern dass 
der Kleinwuechsige eine Leiter bekommt.

Die starke Lobby der Rollstuhlfahrer, auch schon vor Schaeuble, hat gezeigt, was 
letztlich alles an Veraenderungen moeglich ist: kein oeffentliches Gebaeude, das 
nicht rollstuhlgerecht ist (zumindestens auf dem Papier). Leider findet sich 
z.B. in oertlichen Ratgebern fuer Behinderte zur behindertengerechten Austattung 
alles ueber Rollstuhlgerechtigkeit, aber nichts zur Blindengerechtigkeit. 
Insofern lohnt sich m.E. das Engagement, eine Behindertengerechtigkeit 
herzustellen, zu der eben auch eine Blindengerechtigkeit gehoert. 

Dabei ist es voellig egal, ob Blinde Braille beherrschen und ihr Leben 
selbststaendig fuehren oder es aeltere blinde Menschen sind, die unterstuetzende 
kommunikative Hilfsmittel nicht nutzen koennen. Auch fuer letztere finden sich 
Loesungen (im Zweifelsfalle ueber eine juristische Betreuung oder eine Vollmacht). 
Beim rollstuhlgerechten Bau von Gebaeuden macht sich auch keiner Gedanken 
darueber, ob jemand den Rollstuhl selbst bewegen kann, ob er geschoben werden muss 
oder die Haende noch bewegen kann, es wird einfach gemacht.

Behinderungskennzeichnungen, ob Parkschilder oder Parkausweise oder Aufkleber, 
zieren immer Rollstuhlfahrer. So muss ich mich auch staendig von Passanten und 
"behinderten" Autofahrern (die leicht auf einem Bein hinken, aber einen 
Parkausweis haben) anpoebeln lassen, warum ich, wenn ich mit meinem blinden Sohn 
fahre, auf einem Behindertenparkplatz parke. Ich frage inzwischen ruhiger, ob 
Blindheit nicht reicht, oder ich meinem Sohn noch zusaetzlich die Beine 
amputieren soll, damit es genehm ist. 


mfg
Lutz Mueller-Bohlen