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Re: Musiknoten fuer Blinde



Hallo, Bianca und alle, die das vielleicht interessiert!

On Mon, 8 Mar 1999, Bianca Stoeltzing wrote:

> kann mir jemand etwas ueber Musiknoten fuer Blinde sagen? Es gibt doch
> eine Brailleschrift dafuer. Hat die jemand und kann sie mir schicken?

Richtig, es gibt eine Blindennotenschrift, die sogar von Louis Braille
selbst konzipiert wurde, aber in der Zwischenzeit natuerlich viele
Erweiterungen erfahren hat. Sie basiert auf denselben Sechspunktezeichen
wie die Braille'sche Textschrift auch. Nun kann man sich allerdings
vorstellen, dass es schon ein mittleres Kunststueck ist, die Notenschrift
der Sehenden auf die lumpigen 64 Punktkombinationen abzubilden, und das
auch noch platzsparend und halbwegs gut lesbar. Will sagen: Die Definition
der Blindennotenschrift ist ein recht umfangreiches Regelwerk, aeusserlich
also ein stattliches Buch. Erst vor kurzem hat eine internationale
Kommission eine Neufassung beschlossen, die, wie mir gesagt wurde, bei der
SBS in Zuerich erschienen ist.

Zum Hineinschnuppern hier einmal die Grundprinzipien: Die Notenschrift der
Sehenden ist zweidimensional, waagerecht verlaeuft die Zeitachse,
senkrecht die Tonhoehenachse. Der tastende Finger waere voellig
ueberfordert, wenn er eine zweidimensionale Struktur dieser Art erfassen
muesste, d.h. man projiziert das Ganze auf eine Dimension, schreibt also
alles hintereinander weg, etwa wie man Noten diktieren wuerde: "Viertel F,
Halbe G, Achtel A usw.".

Weil man die Tonstufe nicht einfach durch die Position der Note
wiedergeben kann, verwendet man verschiedene Symbole. Die sieben Stufen
der Tonleiter werden durch unterschiedliche Kombinationen der oberen vier
Punkte des Braillezeichens unterschieden (aehnlich wie man sie durch
verschiedene Buchstaben benennt). Die beiden unteren Punkte 3 und 6 dienen
zur Kennzeichnung des Notenwertes:

Achtel bzw. Hundertachtundzwanzigstel: ohne Punkte 3 und 6,
Viertel bzw. Vierundsechzigstel: nur mit Punkt 6,
Halbe bzw. Zweiunddreissigstel: nur mit Punkt 3,
Ganze bzw. Sechzehntel: mit Punkten 3 und 6.

Hier die vollstaendige Tabelle (Sehende und Benutzer von Sprachausgaben
sind jetzt erheblich im Nachteil, ich weiss...):

Tonstufe    Achtel      Viertel     Halbe       Ganze
C           d (145)     4 (1456)    n (1453)    y (14536)
D           e (15)      5 (156)     o (153)     z (1536)
E           f (124)     6 (1246)    p (1243)    & (12436)
F           g (1245)    7 (12456)   q (12453)   % (124536)
G           h (125)     8 (1256)    r (1253)    { (12536)
A           i (24)      9 (246)     s (243)     ~ (2436)
H           j (245)     w (2456)    t (2453)    } (24536)

Die C-Durtonleiter in Vierteln sieht folgendermassen aus:

!4567 89w42k

Das Ausrufungszeichen (Punkt 5) am Anfang besagt, dass in der
eingestrichenen Oktav begonnen werden soll. Vor die weiteren Noten
brauchen wir keine "Oktavzeichen" zu setzen, weil es nur in
Sekundschritten weitergeht. Es gibt genaue Regeln darueber, wann
Oktavzeichen erforderlich sind.

Der Leerschlag in der Mitte stellt den Taktstrich dar (ich habe den
Viervierteltakt nicht extra vorgezeichnet).

Das Symbol "2k" am Schluss steht fuer den "Doppelstrich" in der
Schwarzschrift. Hier haben wir ein Beispiel fuer ein Symbol, das aus zwei
Punktschriftzeichen besteht (es gibt auch drei- und noch mehrformige
Symbole). Das Prinzip ist sehr interessant: Eigentlich steht "2" fuer das
Erniedrigungszeichen ("Be"), aber diese Bedeutung kann es nur haben, wenn
ihm eine Note folgt, und "k" ist keine Note. Darum kann der Kombination
"2k" eine eigene Bedeutung zugeschrieben werden.

Ich habe hier nichts gesagt ueber Mehrstimmigkeit, Vortragsbezeichnungen,
Verzierungen und und und... Das wuerde ganz erheblich den Rahmen sprengen
und mir bestimmt bitterboese Antworten einbringen. Dafuer abschliessend
noch eine andere Bemerkung: Die Tatsache, dass die Notenschrift dieselben
Zeichen verwendet wie die Textschrift, haben wir - Daniel Heinrich und ich
- schon dazu benutzt, uns Noten zuzumailen. Ich habe auch ein Programm
geschrieben, das Blindennoten in das Musikformat CMF uebersetzt, so dass
sie mittels Soundkarte abgespielt werden koennen. Leider ist das Ding noch
im Rohbau und sehr empfindlich gegen Fehlbedienung, weshalb ich damit noch
nicht an die Oeffentlichkeit gegangen bin. Ich habe allerdings noch immer
die stille Hoffnung, dass ich es mit der Zeit in eine vernuenftige Form
bringen kann, die ich dann natuerlich nicht mehr unter Verschluss halten
werde.

Viva la musica!
Eberhard