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Denkwuerdiges Urteil



## Nachricht vom 06.09.97 weitergeleitet
## Ursprung : /BLINDNET/BLINDENRECHT
## Ersteller: mic_bEi_glasnost.de
 
Denkwuerdiges Urteil
 
In seinem Beschluss vom 3. September 1997 lehnt das Verwaltungsgericht
Berlin unter dem Aktenzeichen VG 6 A 528.97 den Antrag eines Menschen mit
mehrfachen Behinderungen auf Bereitstellung eines Laptops fuer sein
Jurastudium ab. Die Behinderungen sind vor allem gepraegt durch eine
hochgradige Sehschwaeche und durch eine Erkrankung an Multipler Sklerose, in
deren Rahmen erhebliche Kraftminderung und Koordinationsprobleme von Hand
und Fingern auftreten.
 
In der denkwuerdigen Begruendung wird zunaechst zutreffend festgestellt: "An
der Eignung eines tragbaren Computers, zum Ausgleich der durch die
Behinderung bedingten Maengel beizutragen, bestehen bei summarischer Pruefung
keine Zweifel. Die Leiterin der Beratungsstelle fuer Behinderte des
Bezirksamtes Lichtenberg von Berlin ... hat auf Anfrage des Antragsgegners
unter dem 25. Juni 1997 bestaetigt, der Antragsteller muesse auf Grund eines
deutlichen Intentionstremors, rechts staerker als links, und der
Verringerung der groben Kraft beim Schreiben erhebliche Kraft und
Konzentration aufwenden, um Mitschriften bei Aus- und
Weiterbildungsmassnahmen anzufertigen. Schriftliche Arbeiten unter
Zeitdruck, wie bei Vorlesungen, seien ihm daher manuell kaum moeglich. Die
Kammer geht des weiteren bei summarischer Pruefung auch davon aus, dass der
Antragsteller ein solches Hilfsmittel bedienen kann..."
(Intentionstremor ist ein Zittern der Hand, dass bei Annaeherung an das Ziel
auftritt und zunehmend verstaerkt wird.)
 
Dann aber befindet das Gericht:
"Es ist jedoch bei summarischer Pruefung nicht glaubhaft gemacht, dass der
(gemeint ist wohl: fuer den - d. V.) Antragsteller neben dem in seiner
Wohnung verfuegbaren Personal-Computer ein weiterer, transportabler Computer
zur Mitnahme in die Hochschule erforderlich ist ... Soweit der
Antragsteller Vorlesungen besucht und hierfuer stichpunktartige Notizen
anfertigen muss, ist ein tragbarer Computer nicht erforderlich. Kuerzere
Texte kann er stichpunktartig mitschreiben und zu Hause ausarbeiten. Soweit
er laengere Texte wegen auftretender Schreibkraempfe und des
Intentionstremors nicht mitschreiben oder hinterher wegen seiner
Sehbehinderung nicht mehr lesen kann ... reicht hierfuer ein einfaches
Handdiktiergeraet aus, das schon fuer unter 60,-- DM und gebraucht noch
wesentlich preiswerter angeboten wird. Die so gefertigten Aufzeichnungen
kann er zu Hause an seinem Bildschirm-Arbeitsplatz schriftlich ausarbeiten.
Gleiches gilt fuer Arbeiten in der Bibliothek, wo er ausserdem Ablichtungen
anfertigen kann... Im uebrigen kann der Anspruch auf einen tragbaren
Computer auch nicht ohne weiteres mit der Notwendigkeit des Anfertigens
schriftlicher Aufsichtsarbeiten begruendet werden, denn insoweit duerfte auch
eine einfache Schreibmaschine ausreichend sein...."
 
Moeglicher Weise waere das Gericht zu einer anderen Auffassung gekommen, wenn
es die Meinung der betroffenen Prof.'s eingeholt haette, inwieweit sie damit
einverstanden sind, wenn in ihren Vorlesungen unentwegt jemand etwas
halblaut in ein Geraet spricht. In vorderster Reihe, weil derjenige sonst
wegen seiner hochgradigen Sehschwaeche optisch von der Vorlesung ueberhaupt
nichts mitbekommt. Vielleicht waere es aber auch sachdienlich gewesen, sich
von einem Neurologen oder besser noch von einem Betroffenen beschreiben zu
lassen, wie mit gestoerter Koordination der Hand- und Fingermuskulatur bei
Aufhebung der Lageempfindung (Tiefensensibilitaet) ein Diktiergeraet bedient
werden kann.
 
Auch eine Notiz in Stichpunkten ist bei einem Jurastudium gewoehnlich nicht
ausreichend. Notwendig waere aber wegen der bestehenden hochgradigen
Sehschwaeche auf jeden Fall, die Mitschriften im Computer zu verarbeiten.
Bei Mitschriften ohne Computer muesste die doppelte Zeit fuer die Anfertigung
von Vorlesungsmitschriften aufgewandt werden. Das haette zwangslaeufig
erhebliche Auswirkungen auf die Studiendauer.
 
Klausuren oder Examen des Jurastudiums mit einer einfachen Schreibmaschine
zu bewaeltigen , ist schon deshalb vollkommen undenkbar, weil dabei absolute
Ruhe oberstes Gebot ist. Jeder, der Jura studiert hat, sollte dies erinnern
koennen. Aber allein schon wegen der - im Urteil angefuehrten - aerztlich
festgestellten Verminderung der Kraft und der weiteren Beeintraechtigungen
koennte eine einfache Schreibmaschine nicht bedient werden.
 
Noch am 31 August 1995 hatte das Bundesverwaltungsgericht im Fall eines
blinden Jurastudenten, der einen Computer beantragt hatte, die Ansicht
vertreten, dass es ermoeglicht werden muesse, "in der Umgebung von
Nichthilfeempfaengern aehnlich wie diese zu leben (BVerwGE 33, 256)." Daher
koenne zur Durchfuehrung der Ausbildung auf "weniger wirksame Hilfsmittel
(wie z. B. Schreibmaschine, Blindenschriftbogenmaschine oder ein
Tonbandgeraet mit Zubehoer fuer Blinde - vgl.  9 Abs. 2
Eingliederungshilfeverordnung) ... nicht verwiesen werden." (BVerwG 5 C
17.93)
 
Es ist dem jetzt ergangenen Beschluss des Verwaltungsgerichtes Berlin der
deutliche Trend zu entnehmen, dass in Zeiten des Sparens Menschen mit
Behinderung aus der Mitte der Gesellschaft verdraengt und ihrer
Moeglichkeiten beraubt werden sollen, gleichberechtigt mit Menschen ohne
Behinderung eine Ausbildung zu absolvieren und eine die eigene Existenz
sichernde Taetigkeit aufzubauen.
 
Die Vorlage fuer den richtungsweisenden Gerichtsbeschluss lieferte die
Sozialverwaltung Lichtenberg von Berlin. Ihr steht als Bezirksstadtraetin
Frau Homfeld (PDS) vor.
 
 
Michael Czollek
 
---
 
mailto:mic_bEi_glasnost.de
 
                Es ist unsinnig,
sich unter einen Apfelbaum zu stellen
              und ihn zu bitten,
           Birnen zu produzieren.
 
http://ww.glasnost.de/mic