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Re: Braille-Schrift



Hallo Wulf, hallo FBLINU!

On Wed, 29 Jul 1998, Dr.-Ing. Wulf Alex wrote:

> Ich konnte gerade mal fuehlen, dass da mehrere Hubbelchen sind, aber
> nicht, wie viele oder in welchem Muster. Keine Chance, das Muster zu
> erkennen. Wie machen Blinde das? Jahrelanges Training des Zeigefingers
> oder wie?

Es hat ja schon das Geruecht gegeben, dass Blinde ueber einen
geheimnisvollen "sechsten Sinn" verfuegen oder sonst irgendwie von Natur
aus ueberbegabt seien (von "Goettern" war doch neulich die Rede). 
Zumindest in unserem Kulturkreis kann man das heute nur noch als saudummes
Geschwaetz bezeichnen. Aber wie kommt es dann, dass Blinde tatsaechlich
Sinnesleistungen vollbringen, die den meisten Sehenden als unvorstellbar
erscheinen? Wie einige hier schon geschrieben haben, ist das
ausschliesslich Uebungssache. Die physiologischen Grundlagen fuer einen
"ausgepraegten" Tastsinn sind demnach bei Sehenden genauso vorhanden wie
bei Blinden. Die unterschiedliche Wahrnehmungsfaehigkeit ist die Folge
eines "Oekonomieprinzips", das wir in der Biologie ja immer wieder
antreffen: Faehigkeiten, die ein Organismus nicht unbedingt benoetigt,
werden auch nur maessig ausgebildet oder verkuemmern vielleicht sogar. So
kann sich das Gehirn auf die Bereiche konzentrieren, die sich aufgrund
taeglicher Erfahrung als die eigentlich wichtigen herausstellen. Es gibt
dafuer ja noch ganz andere Beispiele: Was etwa Kontergan-Geschaedigte mit
ihren Fuessen so alles hinkriegen, ist fuer Menschen mit gesunden Armen
und Haenden kaum fassbar. Was koennten wir demnach alles aus unserem
Organismus herausholen, wenn wir ihn nur entsprechend fordern wuerden! 
Oder waere dann womoeglich unser Gehirn ueberfordert?

So, das war jetzt mein "Wort zum Sonntag", wohl etwas philosophisch, aber 
vielleicht darf auch das einmal sein. Nun aber noch etwas aus der Praxis: 
Da ich noch einen Minisehrest habe, wurde ich die ersten zwei Jahre in 
die Normalschule geschickt, wo ich die Schrift der Sehenden lernte. Zwar 
waren meine Augen damit hoffnungslos ueberfordert, aber ich konnte mir 
doch die Formen recht gut vorstellen. Spielerisch setzte ich damals 
haeufig den Tastsinn ein und versuchte damit beispielsweise, die Schrift 
auf der Innenseite der Deckel von Einmachglaesern zu entziffern. Ich 
glaube, dass ich damals intuitiv recht wertvolle Voruebungen fuer das 
Lesen mit dem Optacon gemacht habe. Aber ich koennte mir auch vorstellen, 
dass es fuer einen Sehenden ein interessanter Versuch sein koennte, mit 
den Fingern die ihm bereits bekannten Formen von Buchstaben zu erfassen. 
Vielleicht koennte das fuer Spaeterblindete sogar ein ganz guter 
Zwischenschritt sein, damit sie nicht das Tasten und ein neues 
Schriftsystem auf einmal lernen muessen.

Viele Gruesse
Eberhard