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Re: Tex fuer Blinde



Hallo LaTextelMextler, hallo FBLINU!

On Wed, 25 Nov 1998, Arne Harder wrote:

> ENDLICH!  Ich habe es nicht mehr geglaubt!  Noch vor knapp drei Jahren
> haben massgebliche Blindenpaedagogen LaTex so hochgelobt - es geradezu
> als UNIVERSALLOESUNG fuer Blinde eerklaert - und jetzt ist es so
> merkwuerdig still um dieses Tool geworden.  Hat LaTex nicht gehalten,
> was es versprochen hat (Blinde koennen damit - wie Sehende - Text,
> Formeln, Tabellen, grobe Graphiken und Bilder, Formeln und sogar Noten-
> schrift selbst schreiben, und das alles unter Verwendung reiner ASCII-
> zeichen), oder ist die Entwicklung einfach an LaTex vorbeigegangen
> (Windowmanie)?

LaTeX ist schon so etwas wie eine Religion. Es hat seine engagierte
Gemeinde, es hat seine Propheten und Verfechter mit ungebrochenem
Sendungsbewusstsein. Und es hat auch seine Weissagungen. Aber genau da -
verbrennt mich, wenn Ihr wollt, als Ketzer - moechte ich ein Fragezeichen
dazwischenwerfen. Denn im Gegensatz zu einer Religion, die sich mit einem
wie auch immer gearteten Leben nach dem Tod befasst, wird man ein
Programmpaket wie LaTeX daran messen muessen, was es eben schon in diesem
irdischen Leben an Fruechten abwirft. Wenn es wirklich das alles gehalten
haette, was es versprochen hat, dann waere es schlicht und einfach nicht
"so merkwuerdig still" darum geworden. Dass Blinde sehr wohl in der Lage
sind, die fuer sie geeigneten Hilfen wahrzunehmen und auszubauen, ist
nicht zuletzt mit der weltweiten Verbreitung der Brailleschrift
eindrucksvoll bewiesen worden.

Aber um es weniger kaempferisch zu sagen: Ich habe LaTeX immer wieder
gelernt und auch wieder verlernt. Ich kann so notduerftig damit umgehen,
aber ich mache das viel zu selten, als dass ich richtig Uebung darin
bekommen koennte. Nun beschaeftige ich mich ja andererseits mit ziemlich
anspruchsvollen Dingen wie C++ oder PostScript, so dass ich nicht einfach
davon ausgehen moechte, fuer LaTeX sei ich eben zu bloed.

Das Hauptproblem mit LaTeX fuer uns Blinde sehe ich darin, dass wir die
Ergebnisse, die wir produzieren, nicht ausreichend kontrollieren koennen.
LaTeX ist, wie Wulf schreibt, ein Formatierer, der den Anspruch erhebt,
schlichte ASCII-Texte weitestgehend selbstaendig fuer den anspruchsvollen
Buchdruck aufzubereiten. Natuerlich muss man ihm sagen, wo man eine
Ueberschrift oder einen neuen Absatz haben will, aber Dinge wie den
Zeilen- und den Seitenumbruch erledigt er von selbst, und nur in
Ausnahmefaellen sollte man ihm da dreinreden. Selbstverstaendlich hat er
auch eine integrierte Silbentrennungsautomatik. Aber im Gegensatz zu den
"WYSIWYG-Programmen" (what you see is what you get) wie etwa Word oder
WordPerfect lassen sich die Auswirkungen dieser Automatismen nicht mit
Hilfsmitteln wie Braillezeile oder Sprachausgabe kontrollieren. TeX
erzeugt sogenannte DVI-Files (device-independent), die dann ihrerseits
durch spezielle Treiber wie DVIPS erst fuer die Ausgabe ueber einen
bestimmten Drucker aufgearbeitet werden muessen. Natuerlich gibt es auch
Previewer zur Anzeige von DVI-Files auf dem Bildschirm. Aber
selbstverstaendlich geschieht das alles graphisch. Es gibt wohl auch
Tools, mit denen man DVI-Files wieder naeherungsweise in ASCII
rueckuebersetzen kann, aber dabei geht notwendigerweise so viel
Information verloren, dass es sich nach meiner Ansicht schon gar nicht
lohnt, mit ihnen herumzuexperimentieren.

Interessant finde ich die Beobachtung, dass fast alle LaTeX-Dateien, die
ich bisher in die Hand bekommen habe, von Positionierungsangaben nur so
strotzten. Warum? Der sehende Autor hat's natuerlich zunaechst ohne diese
Zusaetze probiert, dann aber durch optisches Betrachten des Ergebnisses
festgestellt, dass es einfach nicht "schoen" war, weshalb er gezielt in
die Strategie von LaTeX eingegriffen hat. Mir wurde mehrfach bestaetigt,
dass das ein langwieriger Prozess mit vielen Zwischenstufen sein kann.
Kein Wunder also, dass auch die Sehenden lieber zu Programmen greifen, wo
sie bereits waehrend des Tippens beobachten koennen, wie ihr Text
gestaltet wird. Einig ist man sich allerdings weitgehend darin, dass sich
mit LaTeX gewoehnlich die besseren Ergebnisse erzielen lassen (das gilt,
wie Wulf bemerkt, insbesondere fuer mathematische Formeln).

Hier am Tuebinger Rechenzentrum wurde noch vor wenigen Jahren der Gebrauch
von LaTeX richtiggehend forciert. Man schaffte beispielsweise fuer die
Pool-Rechner amerikanische Tastaturen an, denn die Leute sollten ja keine
Umlaute schreiben, dafuer aber den Backslash moeglichst bequem zur
Verfuegung haben. Und wie sieht es heute aus? Der "alte Schrott" wurde
rausgeworfen, alles schafft unter Windows und benutzt Word, und fuer die
seit vielen Monaten ausgeschriebene Halbtagsstelle eines TeX-Beraters
interessiert sich offenbar von den doch so zahlreichen Arbeitslosen kein
einziger. Es geht, denke ich, nicht in erster Linie um LaTeX contra
Windows, sondern darum, dass LaTeX einen Grad der Abstraktion vom Benutzer
verlangt, der angesichts der heutigen technischen Moeglichkeiten nicht
mehr gerechtfertigt erscheint. Das gilt bereits fuer die Sehenden, um
wieviel mehr dann nicht fuer uns, wo wir noch weniger im Griff haben, was
wir mit LaTeX tatsaechlich produzieren?

Ich moechte es so beurteilen: Ein Blinder, der ein ausgereiftes Druckwerk
herstellen will, tut sicher gut daran, erstens LaTeX (oder sogar TeX) zu
lernen und sich zweitens einen qualifizierten sehenden Helfer zu besorgen.
Jedes fuer sich genommen bleibt Stueckwerk.

Arne, noch kurz zum Stichwort "Noten": Ich habe schon sagen hoeren, dass
es einzelne Freaks gibt, die mit Hilfe von TeX Noten zu drucken versuchen.
Was bei diesen Bemuehungen im einzelnen herausgekommen ist, weiss ich
nicht. Wenn es wirklich so waere, dass ein blinder Musiker ganz ohne
sehende Hilfe mit TeX brauchbare Noten setzen koennte, dann waere das eine
Riesensensation. Ich fuerchte nur, dass es halt keine Sensation ist...

Dann, Arne, fragst Du noch nach AsTeR, einem strukturorientierten
Vorleseprogramm fuer LaTeX-Dateien von T.V. Raman. Es gibt die Proceedings
einer Konferenz von 1994, auf der diese Arbeit (Doktorarbeit von Herrn
Raman) vorgestellt wurde. Wenn Du moechtest, schicke ich Dir (und anderen
Interessierten) diesen Text gern als PM zu. Die Doktorarbeit selbst kann
man als Kassettenausgabe bekommen. Es gibt auch eine Mailingliste, in die
ich mich seinerzeit natuerlich gleich habe einschreiben lassen. Allerdings
passiert dort so gut wie ueberhaupt nichts. Wer es trotzdem versuchen
will: E-Mail an "listproc_bEi_u.washington.edu", im Textteil das Kommando 
subscribe aster-l <Vorname> <Nachname>
Von einer deutschen Version von AsTeR ist mir nichts bekannt, ich habe
auch grosse Zweifel, dass es so etwas gibt. Wenn das natuerlich jemand in
Angriff nehmen wollte, waere Herr Raman bestimmt zur Zusammenarbeit
bereit.

Verzeiht mir die Laenge meiner Ausfuehrungen.

Beste Gruesse
Eberhard